Für immer
und noch ein bisschen länger
Roman
Ullstein Paperback
432 Seiten
ISBN: 978-3864931741
Erscheint am 10. 03. 2022
Inhalt
Vor sechs Jahren zerbrach Annas Welt in tausend Stücke: Ihr Verlobter Jeremias starb bei einem Verkehrsunfall. Dabei wollte Anna mit ihm den Rest ihres Lebens verbringen. Seitdem lebt sie allein, unterhält sich in Gedanken mit ihrem toten Verlobten und möchte sich nur noch in ihrem Schmerz auflösen. Bis sie umziehen muss und Gunilla kennenlernt, in deren Wohngemeinschaft ein Zimmer frei ist. Die alte Dame hat seit Jahren ihre Wohnung nicht verlassen, und auch ihre Mitbewohner haben sich von der Welt zurückgezogen: Die stille Rose häkelt den ganzen Tag, und Kurt-Georg kümmert sich um alles, nur nicht um sein gebrochenes Herz. Anna beschließt, sie alle ins Leben zurückzuholen. Auch wenn sie dafür ihre eigene Trauer loslassen muss – und ihr Herz einem neuen Menschen öffnen …
Was ich noch dazu sagen möchte
Ist Für immer und noch ein bisschen länger eigentlich ein Liebesroman?
Meine Romane laufen häufig unter diesem Label, obwohl es sich jedes Mal ein bisschen zweifelhaft anfühlt, so als ob die Schublade beim Reinschieben ein wenig knirscht und nicht ganz passt. Aber trotzdem ist es die richtige Schublade. Manchmal knirscht es eben, und dann muss man genauer hinschauen, woran das liegt. Und nachdenken …
Bei Für immer und noch ein bisschen länger knirscht es gewaltig, würde ich sagen. Der Geliebte der Protagonistin ist von Anfang an tot und es gibt … (Achtung Spoiler, aber der ist vertretbar, ich muss es wissen), … es gibt keinen einzigen „richtigen“ Kuss, geschweige denn mehr. Nichts, was Liebesroman-Fans wohlig aufseufzen lässt und worauf sie die ganze Zeit warten: nämlich auf den Moment. Allerdings bin ich davon überzeugt, in der wahren Liebe gibt es Momente, die sind größer, bedeutender, ewiger.
Ist es nun ein Liebesroman?
Es geht um die Liebe über den Tod hinaus, die unerfüllte Liebe, die heimliche Liebe, die Liebe, die jedes noch so große Opfer bringt, die bedingungslose Liebe, Mutterliebe, Vaterliebe, erwachende Liebe, die Liebe zum Leben und die Liebe – meine Liebe – zum Erzählen.
Show don’t tell ist eine der wichtigsten und meist hergebeteten Regeln beim Schreiben: Zeig es, lass es den Leser miterleben, statt es ihm mitzuteilen. Statt … zu erzählen.
Diese Regel gehört zum Handwerk jedes Schriftstellers, unbestritten. Auch zu meinem. Ich denke, ich beherrsche sie ziemlich gut. Ich weiß, wie ich den Leser am Geschehen teilhaben lassen kann, und ich weiß auch, wie wichtig das ist, um ihn zu fesseln. Aber ich denke an die Zeit zurück, als ich ein Kind war und auf den Knien meines Großvaters gebannt lauschte, wenn er mir Geschichten erzählt hat. Ich habe es geliebt.
Und deshalb wollte ich so ein Buch schreiben: Eins, in dem erzählt wird. In dem Menschen einander etwas erzählen, einander zuhören. Einer erzählt, die anderen hören zu. Sie tun nichts anderes: Zuhören. Und Prosecco trinken, ja, das auch, aber vor allem zuhören. Und der, der erzählt, hat alle Zeit der Welt, die richtigen Worte für seine Geschichte, seine wahre Geschichte, zu finden. Ich wollte, dass die Leser sich so fühlen, wie ich mich gefühlt habe, damals auf den Knien meines Großvaters: gebannt und berührt. Nur durch eine Erzählung. Das geht.
Tell! Erzähl! Es braucht nicht immer die große „Show“.
Aber das nur nebenbei. Den Lesern sind diese mehr technischen Überlegungen eines Autors letztlich sowieso herzlich egal. Sie fragen nicht danach, sie fragen eher: Ist das eigentlich ein Liebesroman?
Und jetzt endlich meine Antwort: Ja! Unbedingt! Für immer und noch ein bisschen länger ist ein Liebesroman. Eindeutig! Ganz, ganz eindeutig. Auch wenn die Schublade noch so laut knirscht. Das macht überhaupt nichts.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz“, lud Frau Wohlgemuth sie herzlich ein. Anna ließ sich ihr gegenüber in einem vornehmen Sessel mit geschwungenen Armlehnen und Samtpolster nieder und fühlte sich, als hätte man sie bei der Führung durch Schönbrunn aufgefordert, in Kaiserin Sissis Lieblingssessel Platz zu nehmen. Plötzlich war sie wieder verlegen und wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Ihr Blick wanderte von Frau Wohlgemuths freundlichem Lächeln aufwärts zu dem großen Gemälde hinter ihr, das eine junge, gertenschlanke Frau neben einem Flügel zeigte. Sie sang und schien ein Konzert zu geben. Ihr Ausdruck war völlig entrückt, eine Hand lag auf ihrer Brust, die Augen waren geschlossen, die Stirn ein wenig gekräuselt und der Mund weit geöffnet, man meinte den Ton, der ihrer Kehle, mehr noch, der ihrem Herzen entstieg, zu hören. Was sie wohl gerade besang? Die Liebe? Oder den Tod? Oder beides? Denn wie oft lag beides ganz nah beieinander.
Frau Wohlgemuth wandte sich zu dem Bild um, kurz nur, dann nahm sie ihr Glas zur Hand und sagte leise: „Das bin ich.“
„Das sind Sie?“ Anna war sprachlos. Noch einmal betrachtete sie das Bild und verglich die junge Frau darauf mit der alten Dame darunter. Sie war es, eindeutig, und eigentlich sah man es auf den ersten Blick. Nur, dass Anna es nicht erwartet hatte.
„Mein verstorbener Mann hat das Bild für mich malen lassen“, sagte Frau Wohlgemuth ebenso leise wie zuvor.
„Dann sind Sie Sängerin?“ In Anbetracht der Erwähnung des verstorbenen Mannes überlegte Anna, ob sie kondolieren sollte, aber es hatte sich nicht so angehört, als wäre er erst kürzlich verstorben, und die Frage, ob sie es hier womöglich mit einer professionellen Sängerin zu tun hatte, war für sie weit drängender.
„Das ist lange her“, sagte Frau Wohlgemuth. „Sehr, sehr lange. Zu dem Zeitpunkt, als das Bild entstand, habe ich schon nicht mehr gesungen. Jedenfalls nicht mehr auf einer Bühne …“
Sie senkte den Kopf – zum ersten Mal, seit sie die Tür geöffnet hatte, wie Anna auffiel. Der Eindruck, den ihr die alte Dame bislang vermittelt hatte, war nicht der einer Person, die den Kopf sinken ließen oder Blicken auswich.
„Und wo haben Sie früher gesungen, wenn ich fragen darf?“, setzte Anna nach. Sie konnte sich einfach nicht zurückhalten. Wenn eines in ihrem Leben sie noch interessierte, dann war es Musik und Menschen, die sich mit Musik beschäftigten. „Waren Sie an der Oper?“
Frau Wohlgemuth hob den Kopf, ein stolzglühender Ausdruck lag in ihrem Gesicht. „Ich war an der Met“, sagte sie.
Anna riss die Augen auf. „Nein!“
„Doch!“ Frau Wohlgemuths Lächeln wurde noch strahlender.
Anna konnte es nicht fassen. „Das ist ja … oh mein Gott, das ist ja der Wahnsinn! Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemanden persönlich kennengelernt, der an der Met gesungen hat.“
Die Metropolitan Opera in New York war so ziemlich das höchste Ziel, das ein Opernsänger erreichen konnte. Und einer solchen Frau, einer solchen Sängerin, saß sie nun gegenüber.
Frau Wohlgemuth lachte hell auf und sah so glücklich aus, dass Anna sich fragte, wie lange sie eine solch unverhohlene Bewunderung bereits entbehrt hatte. Nicht, dass sie sonst unglücklich wirkte, aber das Strahlen in ihrem Gesicht kannte keine Routine, es kam tief aus ihrem Inneren und war selten und kostbar.
„An der Met!“, wiederholte Anna ehrfürchtig und nahm zur Beruhigung einen großen Schluck aus dem edlen Kristallglas.
„Ja, ich war gerade mal dreißig Jahre alt“, sagte Frau Wohlgemuth stolz. „Natürlich gehörte ich dort nicht zu den Stars, ich meine, Renata Tebaldi, Franco Corelli, Montserrat Caballé, die Namen sagen Ihnen natürlich etwas …“ Anna nickte eifrig. „Die waren alle zu meiner Zeit dort engagiert. Das waren Stars. Ich sang kleinere Rollen und war allenfalls Zweitbesetzung.“ Sie drehte sich noch einmal zu ihrem Portrait um, als wollte sie sich vergewissern, dass dieses Leben damals nicht bloß ein Traum war. „Aber eines Tages“, erzählte sie weiter und schmunzelte verstohlen, „da änderte sich das alles. Ich war die Zweitbesetzung bei Gounods Roméo et Juliette, und Mirella Freni war plötzlich erkrankt.“
„Mirella Freni?“, keuchte Anna. „Wahnsinn!“
„Oh ja, die Freni. Man verständigte mich, dass ich singen müsse. Und ich sang. Und obwohl die Zuschauer anfangs natürlich enttäuscht waren, dass sie nicht die Freni, sondern nur ihren Ersatz zu hören bekamen, wurde es ein rauschender Erfolg. Beim Schlussapplaus stand das Publikum sogar für mich auf.“ Glücksstrahlend legte sie beide Hände an ihre Wangen und schüttelte den Kopf, als könnte sie diesen Triumph auch nach all den Jahren noch nicht fassen.
Nach einem kurzen Moment der stillen Erinnerung und mit einem tiefen Seufzer ließ sie die Hände wieder sinken und sah Anna an. „Aber Sie sind ja nicht wegen dieser alten Geschichten hier, nicht wahr?“
…
LESEPROBE