Am Meer ist es schön
Roman
List Hardcover
ISBN: 9783471360880
Seiten: 352
Erscheint am 30.05.2025
Inhalt
Frau Petri zerriss Susis Brief, einmal, zweimal, dreimal, viermal. Kleine Fetzen flogen in den Mülleimer. »Nimm diese hübsche Ansichtskarte, schreib etwas Schönes. Darüber freuen sich deine Eltern ganz sicher, und das möchtest du doch, oder nicht?«
Sechs Wochen Kuraufenthalt an der Nordsee – ein toller Urlaub, versprechen ihr die Eltern. Doch die achtjährige Susanne und die übrigen Kinder verbringen im »Haus Morgentau« die schlimmste Zeit ihres Lebens. Wer den Teller nicht leer isst, die Regeln bricht oder sich anderweitig aufsässig zeigt, wird von den Erzieherinnen hart bestraft. Kein Hilferuf dringt zu den Eltern durch, denn die Briefe der Kinder werden kontrolliert. Doch immer wieder schlagen Susanne und ihre Freunde den »Tanten« ein Schnippchen. Dann kommt es zu einem Vorfall, der Susanne noch Jahrzehnte später in ihren Alpträumen verfolgt – bis sie beschließt, sich endlich dem Trauma ihrer Kindheit zu stellen.
Was ich noch dazu sagen möchte
Kinder, die gequält, gedemütigt, misshandelt werden, die krank aus der Kur nach Hause kommen oder mit völlig verändertem, verängstigtem Wesen. So traumatisiert, dass sie noch als Erwachsene unter den seelischen Folgen leiden.
Dies geschah in der Bundesrepublik über einen Zeitraum von rund vierzig Jahren hinweg, von den Fünfzigern bis weit in die achtziger Jahre hinein.
Warum hat das niemand gesehen? Warum hat niemand etwas unternommen?
Auf das Leid der Verschickungskinder wurde ich erstmals 2022 durch die Sendung Planet Wissen (Verschickungskinder – Leid statt Erholung in der Kinderkur; SWR) aufmerksam, und das auch nur rein zufällig. Was ich in dieser Sendung erfuhr, sah, hörte, hat mich zutiefst schockiert, und fast genauso fassungslos war ich über meine eigene Uninformiertheit. Wieso hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas von dieser Ungeheuerlichkeit gehört?
Vielleicht weil es „Schnee von gestern“ ist? Oder weil es damals nichts so Besonderes war?
Eine Ohrfeige hat noch keinem geschadet. Wer nicht hören will, muss fühlen. Ich kenne diese Sprüche noch gut. Es war normal. Kinder wurden geschlagen, übers Knie gelegt, endlos auf dem Töpfchen sitzen gelassen oder vor dem vollen Teller, bis der Wunsch der Eltern erfüllt wurde: das volle Töpfchen, der leere Teller. Zum Beispiel. Erziehung nannte man das, und war noch bis weit über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus geprägt von den nationalsozialistischen Ansichten darüber, wie man mit Kindern umzugehen habe.
War es also der normale Umgang mit Kindern in dieser Zeit, weil man es nicht besser wusste? Ich denke nicht, dass die Erklärung so einfach ist, denn was in diesen Verschickungsheimen Kindern vielfach angetan wurde, erinnert an Foltermethoden. Die Akzeptanz von Gewalt an Kindern, als Erziehungsmethoden verbrämt, hat einem unsäglichen Sadismus Tür und Tor geöffnet.
Noch bevor die oben erwähnte Sendung zu Ende war, wusste ich: Über dieses Thema muss ich schreiben.
Figuren und Handlung dieses Romans, sowie das Verschickungsheim mit dem Namen Haus Morgentau sind frei erfunden, doch die Wirklichkeit war nicht selten noch um einiges schlimmer, noch schockierender. Ich habe unzählige Erfahrungsberichte ehemaliger Verschickungskinder gelesen, manche waren bruchstückhaft, andere erstaunlich detailliert, erschütternd waren sie alle und oft musste ich meine Lektüre beiseite legen, den Laptop zuklappen, weil es kaum auszuhalten war, mir vorzustellen, was Kinder erlebt haben und was Erwachsene ihnen antaten.
Zwei Fragen habe ich mir gestellt, als ich meinen Roman plante: Wie wirkt sich eine solche Erfahrung in der Kindheit im Laufe des Lebens aus? Und: Wie kann man als Kind diese Zeit überstehen?
Die Auswirkungen mögen sehr unterschiedlich sein und von vielen Faktoren abhängig. Die zweite Frage habe ich mit einem Begriff beantwortet: Freundschaft.
Susanne übersteht die Zeit in Haus Morgentau durch ihre Freunde, und sie ist selbst eine Freundin, wie man sich keine bessere wünschen kann.
Matti, Moni, Rüdiger und wie sie alle heißen, die Kinder, die zusammenhalten und sich stützen. Freundschaft, Zusammenhalt, Mitgefühl – die einfachen Zutaten, die jedes Leid erträglicher, jedes Leben schöner und die ganze Welt besser machen (würden). Es könnte so einfach sein.
Eins noch: der Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Der eine Schauplatz im Damals ist das Verschickungsheim Haus Morgentau, der andere in der Gegenwart ist das Pflegeheim Seniorenresidenz Abendrot.
Parallelen?
Kinder und alte Menschen, beides Gruppen am Rande des Lebens, am Rande der Bevölkerung, beides Gruppen, für die allzu oft die verfassungsrechtliche Versicherung von der unantastbaren Würde des Menschen nicht so richtig zu gelten scheint.
Beides Gruppen, die wie alle sogenannten Randgruppen die Solidarität und den Schutz aus der Mitte brauchen.
Aber wie auch immer: Am Meer ist es schön.
Prolog
21. Juli 1969 | Die Nacht der Mondlandung
Die Sichel des Mondes leuchtete über die Wipfel der Bäume, weit weg, klein und doch so hell, dass ihr Schein die Schwärze der Nacht durchdrang. Wunderschön. Sie war geformt wie ein altmodisches kleines Z, das bedeutete zunehmender Mond, ein kleines A bedeutete abnehmender Mond. Das Mädchen wusste das, denn ihr Vater hatte es ihr erklärt. Von ihm wusste sie auch, dass genau in dieser Nacht zum ersten Mal Menschen den Mond betreten würden. »Das schauen wir uns an, Myszka«, hatte er ihr versprochen. »Im Fernsehen. Bis dahin bist du wieder daheim.«
Aber das war sie nicht.
Sie stand auf einem Stuhl am Fenster und blickte hinaus. An der Sichel des Mondes hielt sie sich fest. Da oben waren jetzt Menschen. Nur daran versuchte sie zu denken. Doch immer wieder glitten ihre Gedanken ab und wurden verschluckt von ihrer Angst.
Einmal, als sie noch ein paar Jahre jünger war, etwa fünf oder sechs Jahre alt, da hatte sie mit ihrer Familie einen Ausflug in den
Frankfurter Zoo unternommen. Mit ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer
großen Schwester und ihrem großen Bruder. Die Tiere waren in Käfigen oder Gehegen, es konnte ihr also nichts geschehen, und doch jagten sie ihr Angst ein. Sie stellte sich vor, die Gitter wären plötzlich verschwunden und sie stünde einem Tiger oder einem Löwen schutzlos gegenüber. Sie würden sie ansehen mit ihren großen, ernsten Augen und einem einzigen Gedanken: Fressen.
Ihr Herz hämmerte so fest gegen ihre Brust, als steckte es ebenfalls in einem Käfig, aus dem es fliehen wollte, genau wie die wilden Tiere. Ganz fest hatte sie sich damals an die Hand ihrer Mutter geklammert.
»Spätzchen, was ist denn los? Sieh mal, der Löwe!« Die Mutter hatte sich zu ihr herabgebeugt und gelächelt. Die Eltern hatten geglaubt, sie würden ihr eine Freude machen, und sicher gab es Kinder, denen ein solcher Tag im Zoo gefallen hätte. Aber bestimmt gab es auch andere Kinder, so wie sie, die sich vor den großen Raubtieren fürchteten und davor, gefressen zu werden. Es konnte doch nicht sein, dass es ihr allein so ging. Sie war froh gewesen, als sie wieder zu Hause war. In Sicherheit.
Jetzt, etwa drei Jahre später, auf diesem Stuhl, befiel das kleine Mädchen eine ganz ähnliche Angst wie damals, nur noch schlimmer, weil sie realer war.
Sie stand auf dem Strafstuhl. Der Stuhl stand dicht am Fenster hoch oben im Turm, damit man den anderen Kindern beim Spielen zuschauen konnte und sah, was man verpasste. Tagsüber. Allerdings lagen die anderen Kinder jetzt in ihren Betten und schliefen. Nur Susanne nicht. Seit Stunden stand sie auf dem Stuhl.
Hinsetzen war nicht erlaubt. Doch ihre Knie begannen zu zittern, nicht einmal der Mond oder der Gedanke an die Menschen da oben konnten sie noch ablenken. Und irgendwann war die Erschöpfung größer als die Angst, sie musste sich hinsetzen, sie konnte nicht anders. Sie würde achtgeben und gleich wieder aufstehen, wenn eine der Tanten zum Kontrollieren kam. Wenn sie kam.
Aber sie war so leise wie eine Raubkatze, und auf einmal stand sie neben dem Kind. Wie ein Schatten.
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